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Wie groß ist die [Emotion]?

Kann man nach einem 0:1 im WM-Halbfinale, wodurch man nicht mehr Weltmeister werden kann, nicht ein einziges Mal eine andere Frage stellen als „Wie groß ist die Enttäuschung?“?

Philipp Lahm wurde das gefragt, der offensichtlich kurz davor war, es dem kleinen Mädchen in der ARD gleichzutun, Jogi Löw wurde das gefragt, Bastian Schweinsteiger wurde das gefragt.

Man muss festhalten, dass es scheißegal ist, wie groß oder klein die Enttäuschung in so einer Situation ist, weil doch jeder, der zugeguckt (und mitgebangt) hat, weiß, dass die Enttäuschung so groß ist, dass es nicht ausreichen würde, die Hände zur vollen Spannweite eines Menschen voneinander zu strecken. Kann man — nach solchen Spielen und vor allem Ergebnissen gegen England und Argentinien — noch enttäuschter sein nach einem Fußballspiel als in diesem Fall gegen Spanien? Wenn man somit nicht mehr, obwohl das durchaus nicht unwahrscheinlich war, Weltmeister werden kann: Was gibt es denn Schlimmeres, als in einem WM-Halbfinale nach so einem Vorlauf zu verlieren (als Fußballer natürlich nur, real life blenden wir hier immer aus)?

Und es ist zudem scheißegal, wie sehr enttäuscht der Befragte ist, weil es auf diese Frage keine sinnvolle Antwort gibt, oder wenn es sie gibt, dann ist sie wenig erhellend und hat für den Zuhörer auch Nullkommanull Erkenntniswert.

„Wie [Emotionen beschreibendes Adjektiv] sind Sie jetzt?“

„400″

„Geht so“

„der grüne Button“

„nicht viel mehr als Erwin aus Eisenhüttenstadt jetzt wäre“

„bis zum Anschlag“

„12 hektar [Emotion]“

„genauso wie letzten Mai, als mein Hamster starb/geboren wurde/Vater wurde“

Was soll man darauf antworten? Wie groß ist die Enttäuschung? Achtkommadrei auf der nach oben offenen Bescheuertheitsskala an Reporterfragen? Oder doch eher „mittelmäßig“, wie man es unter Menschen gerne ausdrückt, nämlich in Worten.

Ja, natürlich ist diese Frage einfach nur ein standardisierter Einstieg in ein Interview, bei dem niemand eine ernsthafte Antwort auf die Frage erwartet. Sehr groß, mittelgroß, mittelklein. Das gilt ja übrigens für beide Fälle: Große Freude oder große Enttäuschung. Wie groß ist die Freude, Herr Torwart vom Drittligaklub, der gerade im DFB-Pokal den entscheidenden Elfmeter gegen den Erstligisten 1. FC Hamburg abgewehrt hat. „12,3 ist die Freude groß!“ Aha. Und die Wut, lieber Trainer vom 1. FC Hamburg? „So groß wie ein Big Mac.“

Wie groß ist eigentlich die Langeweile, die Herren Reporter, wenn man immer die gleichen — sinnlosen — Fragen stellt?

„8,1 groß“.

Wirklich derart groß/klein/mittelmäßig?

20 Kommentare

  1. Sinnvolle Interviews nach einem Spiel führen zu wollen, ist sinnfrei. Die Spieler sind in Gedanken noch auf dem Feld und haben kurz vorher nur Phrasen nachgetankt. Diese Standardfragen drücken einen Knopf und eine passende Antwort kommt. Überraschung gleich Null.
    Letzten Endes sagt der O-Ton nur: Reporter XY war da.
    Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich es nicht anders mache.

  2. krog krog

    Ich bin sonst ja absolut nicht so, aber bei diesem Interview hätte ich es vollkommen verstanden oder sogar befürwortet, hätte Philipp Lahm dem Claus Lufen im Namen der Nation eine geknallt.

    Nicht nur die dümmliche Frage, auch danach das 3fache Nachbohren, obwohl Lahm offensichtlich leer war. Was wollte er da erreichen? Dass er anfängt zu heulen? Ekelhaft.

  3. Heffer Heffer

    Man hätte den Claus Lufen wahrscheinlich schon vor ein paar Wochen als Stalker eingesperrt, hätte er nicht immer ein Mikrofon in der Hand gehabt.

  4. Die erste Frage ist eigentlich ziemlich irrelevant. Sie muss offen sein und ziemlich simple gestellt und eine einfache Antwort fordernd, damit die Spieler erstmals halbwegs in einen Redefluss kommen… deshalb gibt’s die gewohnten Floskeln, die die Spieler schnell runterspulen können…

    Aber ohnehin sind Interviews nach solchen Niederlagen ziemlich sinnfrei… nur was sollen sie tun, die lieben Journalisten, irgendwomit müssen sie ihr Geld verdienen und suchen dann mal glatt nach dem Weg mit dem kleinsten Wiederstand ;)

  5. Manfred Manfred

    Bleibt die Frage, wie viel Mut es braucht, als Spieler wortlos an so ner Hackfresse vorbei in die Kabine zu gehen.
    Oder krogs Idee zu folgen.
    Manchmal vermisse ich Mario Basler.

  6. Meine Enttäuschung war so groß, dass ich den Fernseher ausgemacht habe, als ins Studio (zu Netzer/Delling) geschaltet wurde. Die sinnvollen Spielerinterviews konnten ja schließlich auch nicht mehr weit sein.

  7. Diese dummen Fragen haben – würde ich mal behaupten – mit der Unfähigkeit des Menschen, anderen Menschen würdig in ihrer Trauer zu begegnen, zu tun. Wer findet in solchen emotionalen Momenten, die richtigen Worte?

    Und sonst bin ich absolut bei Sebastian und dem Rest hier: „Sinnvolle Interviews nach einem Spiel führen zu wollen, ist sinnfrei.“

    Auf der anderen Seite bin ich Fan des Zwischendurchinterviews, bspws. beim Eishockey. Die Jungs sind erstaunlicherweise äußerst fit, das Spiel zu beurteilen und die richtigen Antworten zu geben.

    Ist das ein Widerspruch?

  8. Diddi der Däne Diddi der Däne

    Trainer, wegen solcher – und millionen anderer – Beiträge liebe ich dich (und deinen Blog).

  9. „12 hektar [Emotion]“ ist übrigens ein großartiger Sontitel, den werd ich mir bei Gelegenheit mal ausleihen.

  10. Puuuh. Gut, dass der Spielbeobachter kein ‚h‘ nachgereicht hat…

  11. Hm. „12 Hektar [Emotion], komm sofort darunter. SOFORT hab ich gesagt!!!“ – fänd ich jetzt auch nicht so schlecht.

    Entschuldigung, ich deraile.

  12. „wie groß ist die enttäuschung?“ ist doch keine frage, das ist ein ungeschickt mit falschem satzzeichen versehener aussagesatz. dem reporter gehts grad nicht gut, und das teilt er dem spieler mit. er möchte nur ein bißchen in den arm genommen werden, glaub ich. also, der reporter jetze.

    @mars machste jut :)

  13. @jens [catenaccio]: Stimmt, aber die Eishockey-Spieler müssen wohl mehr anbieten und geben sich deshalb da mehr Mühe. Sie müssen ihren Sport mehr verkaufen und für eine breite Masse attraktiv machen. Da reichen Floskeln nicht aus… zum Fußi laufen wir ohnehin alle ;)

  14. krog krog

    Dass man direkt nach einem Spiel nichts sinnvolles rausbekommt würde ich aber nicht verallgemeinern. Es sind solch entscheidende Spiele, wo es unmöglich ist.

    Im normalen Liga-Betrieb hab ich letztes Jahr bei vielen Einzelspielen die ich geschaut habe auch oft sehr sinnvolle Dinge gehört. Die Interviews laufen dort aber auch in voller Länge, statt wie später nur die zusammengeschnittenen flachen Schlagzeilen die rausgekitzelt werden sollen.

    Teilweise waren die Analysen der Spieler besser als ein Großteil der sonstigen TV-Ausschlachtung danach. Und wieder stach übrigens u.a. ein Herr Schweinsteiger heraus, der nach dem Spanienspiel auch NULL sagen konnte/wollte.

  15. keano keano

    Danke, Trainer!

  16. Sehr schöner Link, Danke dafür. So viel Selbstironie hätte ich dem WDR und Anverwandten gar nicht zugetraut.

  17. Passend in diese Reihe fragte Michael Steinbrecher Felix Magath gestern nach dem Spiel:

    „Wie vermeidbar war der Elfmeter?“

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