Yves Eigenrauch sagte mal, dass er Spiele gar nicht so mochte. Er habe damals lieber trainiert, denn Spiele seien so langweilig gewesen. Das mag sicher nicht für die Highlights seiner Karriere gegolten haben, als er den großen Ronaldo einigermaßen unter Kontrolle brachte und anschließend in die Annalen des Weltfußballs einging, indem er einen internationalen Titel gewann. Doch für den normalen Ligabetrieb und ganz besonders für Vorbereitungsspiele gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass Eigenrauch Recht haben könnte. 90 lange Minuten, und davon hat man, wenn es hoch kommt, 90 Sekunden lang den Ball unter Kontrolle. Will man aufs Tor schießen, ist immer schon ein Verteidiger da, man kann nicht ganz so zielen wie gewünscht, man muss Abstriche machen beim perfekten Torschuss, den man eigentlich gerade abliefern wollte. Dazu kommt der Aufwand, sich stundenlang vor der Partie schon für diese vorbereiten zu müssen, bei Auswärtsspielen natürlich verschärft, aber auch bei Heimspielen kann man nicht wie bei einem Training mal eben so 15 Minuten vor Beginn in die Kabine huschen. Seltsame Marotte des deutschen Fußballs: Anzunehmen, dass jemand, der täglich Fußball spielt, sich stets in tibetanischer Mönchsmanier auf ein Spiel vorbereiten müsse. Dabei sind die Abläufe eines Spiels doch so tief in seinem Hirn verankert, dass man davon ausgehen darf, dass er oder sie dies auch ohne große Vorbereitung abzurufen in der Lage ist. Noch dazu hätte man ja die ganze Woche Zeit gehabt, die Taktiken und Strategien für die Partie vorzubereiten, so dass eine letzte Mannschaftsbesprechung („… und schon gar nicht von Polen!“) eigentlich überflüssig wäre, wenn es da nicht dieses Mantra gäbe, dass jemand, der um 15.30h ein Spiel bestreiten muss, auf keinen Fall noch um 11h shoppen oder um 12h einen Kaffee im Café trinken gehen darf. Was maximal erlaubt ist, ist Musik. Um sich aufzuputschen, weil Captagon ja seit Längerem nicht mehr geht. Musik mit Sternchen dran, denn natürlich kann sich niemand auf diesem Planeten und wohl auch nicht auf den restlichen Planeten dieses Sonnensystems ernsthaft vermittels einer Mannheimer Heultröte aufputschen, die noch dazu ständig christlichen Sermon in ihre Texte einfließen lässt. Wo doch jeder weiß, dass der Fußballgott Atheist ist.
Pünktlich da sein muss man, so tun, als hätte man Bock auf Small Talk mit den Kollegen und dann muss man doch 88,5 Minuten lang nur hinterherhecheln, sich über nicht erfolgte Zuspiele ärgern, als eigentlich der richtige Moment da gewesen wäre, oder noch schlimmer, man muss zugeben, dass in jenem anderen Moment den Ball eben nicht unter Kontrolle gehabt zu haben, zum Kopfballgegentor führte. Man spielt mit und macht Fehler, obwohl man das Ding nicht mal berührt. Das kann schon sehr frustrierend sein, weshalb Spiele manchmal nicht nur langweilig, sondern eben auch die Laune verderbend sind. Das ist natürlich das Berufsrisiko eines jeden, der solch ein Spiel zu seinem Beruf macht. Das Training allerdings ist wohl selten dazu geeignet, die Laune und somit den restlichen oder den folgenden Tag vollständig zu verderben. Noch dazu laufen die wenigsten Trainings so ab, dass man nur 90 Sekunden lang den Ball unter Kontrolle hat. Viele Übungen werden zu zweit durchgeführt, so dass man quasi 50% der Zeit über den Ball verfügt (was nicht mal nicht ganz, sondern gar nicht stimmt, denn auch dann ist der Ball den Großteil der Zeit im Raum unterwegs, was aber, wie der aufmerksame und bemühte Selbstfußballspieler weiß, immer noch als „unter Kontrolle habend“ empfunden wird, so lange der Ball den gewünschten Weg absolviert). 50% von vielleicht 90 Minuten versus anderthalb Minuten.
Dazu kommt das ausgemacht Kontemplative der Einspielübungen zu zweit, wenn man sich über längere Distanz den Ball zuspielt, ganz simpel, hin und her. Von außen betrachtet, wenn vielleicht 20 Menschen aufgereiht stehen und sich hin und her die Bälle zupassen, die Bälle im hohen Bogen durch die Luft fliegen, hat es fast etwas von einem einstudierten Ballett, zumindest aber etwas von angenehmer, beruhigender Ordnung, das Leben im Fluß des Busfahrplans, sofern die Spieler die Bälle exakt spielen; es wirkt entspannend, beim Zusehen als auch beim Ausüben. Kein Gegenspieler weit und breit stört den Flug des Balles, und keiner stört am Ende, wenn der Ball wie von Magneten unter dem Rasen angezogen mit einem kurzen, aber satten Ploppen am Fuß des Empfängers kleben bleibt, woraufhin dieser ihn mit der selben Unbedrängtheit wie Selbstverständlichkeit in eben jener Präzision zurückspielt, die ihm nicht gelänge, wenn dies kein Training, sondern ein Spiel wäre.
Natürlich braucht man dann und wann auch das Adrenalin, auch den Schweiß, die Beschimpfungen, die Hacken und die üble Fratze sowie seine ihm auf die Stirn geschriebene Dummheit des Gegners, die selbst für ordentlichen Trash Talk zu wenig Vokabular zu speichern in der Lage ist, die lächerliche Frisur und die noch lächerlichen Versuche, sich mit ungeschickten Foulspielen einen Vorteil zu verschaffen, den Reiz, dass den einen oder anderen Ball vor dem Gegner zu erlangen, bei ihm genau jene Frustration auslöst, die man ihm so sehr wünscht, und wegen derer Yves Eigenrauch möglicherweise eben auch lieber trainierte als zu spielen.
An den meisten Tagen in der Woche ist es aber völlig in Ordnung, nur das kleine Ballett zu aktivieren, den Kugeln beim Hin- und Herschweben zuzuschauen oder sie selbst zum Schweben zu bringen. Man muss den Partner, den man an diesem einen Trainingsabend hat, nicht mal mögen, um zu genießen, wie die Flugbahn der Bälle ein kleines Lächeln in die Gedanken zaubert, das man nicht rauslässt, weil man nicht den halben Tag grinsend auf dem Trainingsplatz stehen möchte, das kein Zuschauer im Stadion bei einem Spiel sehen kann, das aber nach innen leuchtet, genauso wie der nur kleine Tropfen Schweiß auf der Stirn, den man beim Ballett nun mal so produziert.