Sehr enttäuschend.
Sehr, sehr enttäuschend.
Das türkische Publikum. Das als so unglaublich frenetisch apostrophierte Publikum in der Türkei ist äußerst fußballfachunkundig. Denn wenn es wüsste, wie es tatsächlich um die deutsche Defensive bestellt ist, würde es nicht schon zu großen Teilen vor dem Abpfiff nach Hause stromern, bei einem so knappen Rückstand von gerade mal 0:2. Die deutsche Defensive ist nämlich immer für ein Gegentor gut, warum dann auch nicht mal 2 aus dem Nichts, so wie der Anschlusstreffer zum 1:2.
6 Gegentore in 9 Spielen, darunter 2 (!) von Aserbaidschan, ebenfalls meist aus dem Nichts. Ich als Türke wäre noch ein bisschen sitzen geblieben. Gastfreundlich ist es auch nicht besonders, einem erst die Hölle heiß zu machen, und wenn man dann verloren hat, ist man gar nicht mehr anwesend. Aber nun gut, um seine Außenwirkung kümmert sich der einzelne Bezahlende ja nun mal selten. Da geht es eher darum, ob man gleich im Stau steht oder nicht.
Neuer mit den üblichen Schwächen bei Flanken, was nützen da Anspiele wie aus Netzers Füßen, wenn immer wieder diverse Wackler im Spiel sind von wegen „weltbester Torwart“. Der stets schattige Badstuber mit einer mediokren Zweikampfgestaltung und bei Boateng das mag auch im Auge des Betrachters liegen läuft immer die Angst mit, ob er vielleicht nicht doch gerade abgeschaltet haben könnte. Zwei mal fünfundvierzig Minuten, ganz ehrlich: das kann man auch trainieren, sich so lange konzentrieren zu können, vor allem wenn man [Populismus on] den ganzen Tag nichts Anderes als Fußballspielen macht [/Populismus off].
Ein Hüne von einem Mann, und doch möchte man ihn immer wieder am Arm nehmen und zeigen, dass er gar keine Angst haben müsste vor dem Gegner, vor dem Spiel, dem Leben, der Welt. Es ist allerdings in der Tat beängstigend, dass Jerome Boateng nun schon seit 2007 Profi ist und dabei in dieser Frage Fortschritte gemacht zu haben scheint wie König Samba in den ersten sieben Jahren im Kampf gegen Isa Bere.
Schließlich entwickelt man gar noch ein wenig Verständnis für Lehrer, die ihre tagträumenden Schüler schon mal am Arm rütteln, um sie dazu zu bewegen, sich endlich ihrer Aufgabe zu widmen und nicht mehr aus dem Fenster, sieh!, ein Schmetterling!
Ein Mal allerdings stach Boatengs Auftreten heraus: Als er ein sehr langes Laufduell gewann und da blitzte das so selten Gewordene im Fußball mal wieder auf: der Kampf Mann gegen Mann, einfach nur die Frage, wer nun einen halben Meter schneller ist als der Gegenüber. Boateng blieb Sieger, doch auch hier erwachte das Gefühl, dass er erst die entscheidenden Km/h drauflegte, als er merkte, dass sein Gegner ebenfalls im Vollsprint befindlich ist.
Eine schöne Reminiszenz an alte Zeiten, als noch die Mannschaft mit den besseren 11 Einzelspielern gewann und ein bisschen konnte man auch wehmütig werden, so viel Energie und so viel Unvorhersehbarkeit, wie dort plötzlich versprüht wurde.
Enttäuschend auch, wie alt Mario Gomez geworden ist, seit manchmal Mario Götze neben ihm spielt. Da sieht man, dass Gomez zwar mehr als nur seinen Körper einsetzen kann, dass ihm aber gleichzeitig jeder Glanz im Spiel des Balles abgeht. Muss er auf seiner Position auch nicht besitzen. Doch auf diese Weise laufen so viele Ideen von Götze ins Leere.
Dieser verfügt über jenes Zidane-hafte, welches das Spiel verlangsamt, wenn er am Ball ist, alle Optionen stehen ihm mehr als sekundenlang offen. Wenn man dann aber wartet und wartet und wartet, dass z. B. Gomez sich in die richtige Richtung löst, jedoch nichts passiert, dann kann man selbst als Mario Götze schon mal den Ball verlieren.
Das sieht dann blöd aus, denn Mario Gomez würde in ähnlicher Lage wie auch am Freitag geschehen einfach unmotiviert auf, bzw. übers Tor schießen. Sieht fast so aus, als sollte Götze da noch ein wenig eigensinniger werden, auch wenn man das im Zuge der Schönheit des Spiels natürlich nicht wollen kann.
Bliebe Jogi Löw und die deutsche Bildregie. Letztere sollte das Stilmittel des rumpelstilzenden Löws seltener verwenden, denn sonst nutzt es sich allzu schnell ab beim Zuschauer, aber auch bei den Spielern. Und fällt Löw ohnehin auf die Füße, wenn es trotz beeindruckender Gesamtleistung in Istanbul wie in der kompletten EM-Qualifikation dann doch wieder nicht zum Titel reichen sollte.
Partien mit ähnlicher Ausgangslage hätte man vor zwei, drei Jahren allerdings noch achtlos weggeworfen. Wie am Freitag bei der Türkei gewonnen wurde, obwohl man qualifiziert war, lässt der Bildregie vielleicht noch mehr als nur eine Gnadenfrist beim Spiel mit der Super Slow Emotion.