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Schlagwort: Eintrittskarte

Ein Abend für acht Mark mit Tita, Calli und Liza

Alex Feuerherdt ist einer der beiden Betreiber vom in Kürze hier noch näher beleuchtet werdenden vorzüglichen Schiedsrichter-Podcast Collinas Erben, bloggt unter LizasWelt über Politik und Fußball und ist neben vielen anderen Publikationsorten auch bei Twitter zu finden.

Anlass des heutigen Austauschs mit Alex Feuerherdt ist der Umstand, dass Bayer Leverkusens grandioser Europapokalsieg aus dem Jahr 1988 inzwischen auch schon jubiläumshafte 25 Jahre her ist. Jener Europapokalsieg, mit welchem Bayer Leverkusen an gewonnenen Europapokaltiteln mit Eintracht Frankfurt, Borussia Dortmund oder dem 1. FC Magdeburg gleichzog.

Früher verhielt es sich nämlich so, die Älteren werden sich erinnern, dass deutsche Mannschaften einen Europapokalwettbewerb öfter auch mal siegreich beendeten. Dies gelang Bayer Leverkusen, als es im Rückspiel im heimischen, als Fußballstadion gerade erst in der Entstehung begriffenen Ulrich-Haberland-Stadion zu Leverkusen die 0:3-Niederlage aus dem Hinspiel bei Español Barcelona wettmachte und das spätere Elfmeterschießen für sich entschied, wie diese Daten noch einmal in Erinnerung rufen. Geschehen ist all dies unter den Augen von Alex Feuerherdt, der sich hier bei „Trainer Baade“ zum Gespräch eingefunden hat und, wie man sieht, die Eintrittskarte fein säuberlich mit dem Endergebnis versehen aufbewahrt und heute mitgebracht hat.



Hallo Alex, schön, dass Du Zeit für ein paar Auskünfte über diese Partie hast. Bekanntlich bist Du kein Fan von Bayer Leverkusen. Wie kam es, dass Du Dich damals trotzdem dazu entschlossen hast, zu dieser Partie zu gehen?

Das geschah vor allem aus einer Abi-Laune heraus. Wir waren an der Schule ein recht fußballaffiner Jahrgang und ohnehin durch die ganzen schulischen wie nichtschulischen Aktivitäten, die so ein Abitur mit sich bringt, viel zusammen. Als Bayer Leverkusen dann ins Finale einzog, fanden sich sofort zwanzig Leute – fast ein Drittel der Abschlussklasse –, die das Rückspiel im Haberland-Stadion live sehen wollten, auch wenn niemand davon ausgewiesener Bayer-04-Fan war. Der Termin lag kurz nach den letzten schriftlichen Prüfungen und vor den mündlichen, das passte gut.

Ich habe mich dann bereit erklärt, Stehplatzkarten für alle zu besorgen. Und tatsächlich war das kein Problem – binnen weniger Tage hatte ich auf meine schriftliche Bestellung hin zwanzig Tickets à acht Mark im Briefkasten. Acht Mark! Nun war es damals zwar grundsätzlich leichter, an Karten zu kommen, als es heute der Fall ist, zumal die Nachfrage erheblich geringer war, für Spiele von Bayer Leverkusen zumal. Trotzdem habe ich ein bisschen gestaunt, dass es so leicht ging, immerhin war es ein Europapokalfinale.

Und dann verlor Bayer das Hinspiel in Barcelona sang- und klanglos mit 0:3. Damit schien die Luft schon vor dem Rückspiel raus, und wir waren deshalb maßlos enttäuscht. Aber dann dachten wir: Scheiß drauf, wir machen da trotzdem ’ne Party draus. Kein Einziger hat sein Ticket zurückgegeben, alle sind mitgefahren, auch wenn niemand geglaubt hat, dass Bayer auch nur den Hauch einer Chance haben würde. Wir haben sogar ein Transparent gemalt, „Tschö, Español!“ stand darauf, und es am Zaun hinter dem Tor in der Südkurve befestigt. Genau auf dieses Tor wurden dann später die Elfmeter geschossen.

Hattest Du auch noch eine andere Partie dieser UEFA-Pokalsaison im Stadion gesehen?

Keine einzige. Bundesligaspiele einige, aber kein Uefa-Pokal-Spiel – was eben auch mit dem anstehenden Abitur zusammenhing. Insofern war ich in dieser Saison tatsächlich ein Erfolgsfan von Bayer 04 Leverkusen.

Gab es irgendwelche besonderen Aktionen seitens Bayer? Konfetti, Choreos, Bands, die auftraten? Immerhin stand der Club vor dem größten Erfolg seiner Vereinsgeschichte, auch wenn ein Titelgewinn nach dem Hinspiel unwahrscheinlich wirkte.

Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht mehr. Mich haben Vorprogramme vor Spielen eigentlich noch nie sonderlich interessiert, zumindest keine, die auf dem Rasen stattfanden. Eine Choreo gab es meines Wissens auch nicht, aber das möchte ich nicht beschwören. Woran ich mich allerdings noch erinnern kann, ist ein Song, der vor dem Spiel gleich mehrmals durch die Lautsprecher genudelt wurde. „Einer geht noch, einer geht noch rein“ – das kennt man ja, aber dann hat da irgendeine Schlagerkapelle in Anspielung auf das benötigte Ergebnis den Reim „Viere müssen’s, viere müssen’s sein“ draufgesetzt. Das klang eher nach Durchhalteparole als nach Motivationsmucke und jedenfalls ziemlich unbeholfen, aber irgendwo war das schon wieder so schräg, dass wir es schließlich alle mitgesungen haben.

Wie lief die Partie, deren Ergebnis man natürlich kennt, aber nicht mehr zwangsläufig ihren Verlauf?

Bayer war engagiert, aber irgendwie nervös und fahrig. Zur Pause stand es immer noch 0:0, und dass da noch drei oder gar vier Tore für Leverkusen fallen würden, glaubte eigentlich kein Mensch. Aber dann wechselte Ribbeck nach der Pause Herbert Waas ein, einen quirligen und wuseligen Stürmer, und sofort wurde es ein anderes Spiel, weil die Abwehr von Español mit ihm überhaupt nicht zurecht kam. Nach knapp einer Stunde stocherte Tita den Ball nach einer Vorlage von Waas und einem grotesken Abwehrfehler der Spanier schließlich ins Tor. Tita, das war dieser unglaubliche Brasilianer – irgendwas zwischen offensiver Mittelfeldspieler und Stürmer –, der vor der Saison zu Bayer gekommen war und dann gleich eine Riesensaison spielte. Der hatte ein sensationelles Ballgefühl und war ausgesprochen torgefährlich.

Giftig konnte er außerdem sein, und genau deshalb holte Ribbeck ihn wenige Minuten nach dessen Tor vom Platz. Er hielt ihn für platzverweisgefährdet, wie sich später herausstellen sollte. Ein Spanier hatte Tita offenbar kurz zuvor, vom Schiri unbeobachtet, ins Gesicht geschlagen, deshalb fürchtete Ribbeck ein Revanchefoul und nahm ihn runter. Im Stadion hat das niemand verstanden, wirklich niemand. Tita war das Herz und die Seele des Leverkusener Spiels, und jetzt sollte er schon Feierabend haben? Für ihn kam Klaus Täuber, bei dem schon der Spitzname – „Boxer“ – nahe legte, dass er nicht gerade zu den Filigransten zählt. Und was macht dieser Täuber? Schlägt nicht mal eine Minute nach seiner Einwechslung mit seinem ersten Ballkontakt eine Traumflanke von links auf Falko Götz, der den Ball per Hechtkopfball verwandelt. Mit seinen Wechseln hat Ribbeck das Spiel entschieden, das muss man klar sagen.

In Leverkusen ist das Publikum ja oft dröge, aber jetzt war natürlich richtig was los, die Leute haben einen Höllenlärm veranstaltet. Zweinull und noch etwa 25 Minuten zu spielen. Die Spieler von Español wurden plötzlich panisch, das war förmlich mit Händen zu greifen. Die Abwehr wirkte schon die ganze Zeit unsicher, vor allem bei Flanken, und bettelte regelrecht um einen weiteres Gegentor. Zehn Minuten vor Schluss hat ihnen Bum-Kun Cha dann den Gefallen getan, wieder war es ein Kopfball, diesmal nach einer Hereingabe von rechts. Alles auf null also. Ich glaube, danach hatte Bayer in der regulären Spielzeit noch die eine oder andere gute Torchance, aber der Ball wollte jetzt nicht mehr rein. Also Verlängerung.

Wie lief die Verlängerung?

Hochspannend, aber sie hatte nicht mehr die Intensität der zweiten Halbzeit. Leverkusen war weiterhin überlegen, ging jetzt allerdings weniger Risiken ein als vorher, und die Spanier schienen mir ohnehin nur noch darauf bedacht zu sein, sich ins Elfmeterschießen zu retten.

Einer der immer noch wenigen Europapokale, welcher also im Elfmeterschießen entschieden werden musste. Damals, 1988, war vielleicht noch nicht ganz so klar, dass deutsche Mannschaften — von einer kleinen Ausnahme letztens abgesehen — ihre Elfmeterschießen stets zu gewinnen pflegen. Deshalb berichte auch hier gerne: Wie lief das Elfmeterschießen 1988 in Leverkusen?

Erst einmal war es unfassbar, wie viele Menschen nach dem Abpfiff der Verlängerung plötzlich auf den Platz strömten – und auch dort bleiben durften. Es handelte sich in erster Linie um Journalisten, Reporter und Kameraleute. Wenn man sich heute die Fernsehbilder vom Elfmeterschießen anschaut, sieht man, wie praktisch nach jedem Schuss die Reaktionen aus nächster Nähe eingefangen und Kurzinterviews mit Spielern und Trainern geführt werden. Das Ganze wirkte unglaublich chaotisch, zumal sich auch noch die Rollstuhlfahrer, die vorher am Spielfeldrand waren, in Bewegung setzten, weil sie fürchteten, dass ihnen die Sicht versperrt wird. Insgesamt ein sagenhaft hektisches Gewusel.

Das Elfmeterschießen selbst begann für Bayer denkbar schlecht: Die Spanier trafen zweimal, während Ralf Falkenmayer seinen Schuss vergab. Aber dann wendete sich das Blatt, was maßgeblich an Leverkusens Torwart Rüdiger Vollborn lag, der vor jedem Schuss von Español wild mit den Armen ruderte. Er hielt zwar nur einen Elfmeter, aber die spanischen Schützen waren offensichtlich derart verunsichert, dass einer von ihnen den Ball an die Latte zimmerte und ein anderer – der letzte Schütze – ihn über das Tor schoss. Die Leverkusener Schützen dagegen verwandelten alle: Wolfgang Rolff, Herbert Waas und als letzter der „Boxer“, Klaus Täuber.

Wenn es vor der Partie kaum organisiertes Feiern gab, wie verlief dann schließlich die Siegerehrung?

In dem Chaos nach dem Elfmeterschießen habe ich irgendwann den Überblick verloren, zumal wir auf den Stehplätzen ordentlich Party gemacht haben. Irgendwann stand da ein Podest auf dem Platz, und es wurde noch mal extrem laut, als der Pokal überreicht wurde. Den hat später übrigens wohl Reiner Calmund mit nach Hause genommen.

Alex, vielen Dank für Deine Mühen und Deine Auskünfte aus einer fernen Zeit: für acht Mark zu einem Europapokalendspiel ins Stadion.

Alex Feuerherdt ist Autor der Fußball-Chronik von Bayer 04 Leverkusen aus dem Werkstatt-Verlag.

11 Kommentare

Niemand zu Hause

Es beginnt mit dem kafkaesk endenden Versuch, auf traditionellem Wege eine Eintrittskarte zu erstehen. Auf der Webseite des Turnierausrichters ist angegeben, dass man auch an einigen Orten, in denen kein WM-Stadion steht, Karten erwerben kann. Man müsse sich nur in die Gemäuer des jeweiligen Fußballverbandes begeben.

Das an sich ist einfach, denn an einem Mittwoch vor einem Feiertag ist kurz vor 16h kein weiteres Auto auf dem Parkplatz zu sehen. Kaum öffnet man die Tür des Verbandsgebäudes, weht intensiver Muff um die Nase, nicht aus 1000 Jahren, aber den von Verbandseinrichtungen bekannten. Niemand ist auf den langen Gängen zu sehen, auch scheint hier niemand zu arbeiten. Womöglich ist das ganze Anwesen eine Attrappe, das man von außen für betriebsam und belebt halten darf, innen drin aber lebt keiner außer dem Geist dessen, dass alles gut war, wie es früher war. Neuerung könnte etwas für überschwänglich jugendlich Gebliebene sein.

Nach etlichen Dutzend Metern durch die Gänge, kein Hinweisschild weist auf den Kartenverkauf hin, doch ein menschliches Wesen: der Hausmeister. Womöglich in Personalunion mit dem Mörder, so freundlich wirkt er. Wer nichts zu verbergen hat, kann unmöglich als Verbandsangestellter einem Eindringling gegenüber so freundlich sein. Er aber weist den Weg. Ein Stockwerk höher, da gebe es eine Tür. Aber ob da jetzt noch jemand anwesend sei … ?, wisse er nicht. Schließlich sei es bereits kurz vor Feierabend.

Es ist jemand anwesend, der auch die korrekte Tür benennen kann, hinter der sich Eintrittskartenverkäufer oder -innen befinden sollen. Geklopft, keine Antwort. Der Teppich, auf dem die Füße stehen, knarzt nicht.

Einfach eintreten, und dann steht man im leeren Raum. Stille. Im Nebenraum doch ein älterer Herr. Ob er mir helfen könne. Karten für die WM.

„Für welche Partie?“

„Australien — Äquatorialguinea.“

„Oh, wo spielen die denn?“

Er zeigt ein ehrliches, verschmitztes Lächeln. Äquatorialguinea kommt wohl gleich hinter Mikronesien.

„Bochum.“

„Nein, tut mir leid, da müssen Sie am Montag wiederkommen.“

„Aber am Montag sind die Karten vielleicht schon alle weg?“

„Bestimmt nicht.“

„Wenn aber doch?“

Er könne nicht weiterhelfen. Die Dame, die zuständig ist, sei in Urlaub, komme erst Montag wieder. Er selbst, tut ihm aufrichtig, das sieht man, leid, kenne sich mit dem System nicht aus. Sonst jemand? Nein. Auf dem Rückweg ist der Hausmeister verschwunden. Verdächtig. Keine Karten. Der Parkplatz ist leer.

Vier Tage später.

Am Tag des Eröffnungsspiels: Eine einzige Fahne an einem Wagen wird gesichtet. Zu Fuß immerhin eine Frau in „Lahm“- und somit Deutschlandtrikot. Da muss man die Mitgucker drängen, früh genug loszufahren, man brauche ja einen guten Platz. Und das Turnier beginne ja nicht erst mit dem Anpfiff um 18h, vorher sei auch noch eine Eröffnungsfeier und es gäbe möglicherweise, eventuell, hörenswerte Interviews. Gerade noch rechtzeitig, viertel vor sechs, trifft man in der Fußballguck-Stammkneipe ein, die wirklich jedes noch so geringfügig interessante Champions-League-Vorrundenspiel überträgt. Merkwürdig leer ist der Biergarten, drinnen dann die nicht mehr allzu große Überraschung: keine Leinwand.

Die Blicke der Anwesenden erfassen die Hereinkommenden, können aber die leichte Hetze im Tun und Suchen der übrigen Verabredungen nicht verstehen. Gemütlich dampft eine Zigarette vor sich hin, daneben eine Tasse Kaffee. Vielleicht im Hinterraum, wo sonst die Konzerte sind? Der Kellner verfolgt verwundert das Huschen in jenen Raum, wo sich Gesangsanlagenboxen auf dicken Kabeltrommeln stapeln. Angenehm kühl ist der Raum, wohl auch, weil sich darin niemand befindet.

Schnell weiter, zur todsicheren Gelegenheit, die auch bei einem EM-Spiel Griechenland — Kroatien stets überfüllt ist. 8 rasante Minuten Autofahrt, wo man sonst 15 benötigt, später dann die nächste Überraschung. Freie Plätze en masse. Selbst direkt vor der Leinwand. Nebenan sitzt eine weibliche Mittvierziger-Frauenrunde, wenigstens die zweite Gruppe Menschen am Tag mit Deutschland-Fan-Insignien. Davor eine mäßig interessierte jüngere Frauenrunde, die Frau mit dem „Lahm“-Trikot ist auch dabei. Etwa 40 Prozent der sonst zu 100 Prozent belegten Plätze spüren ein Gesäß auf sich schlummern. Anpfiff, das Spiel beginnt, wenn man gnädig ist, auch die WM in diesem Moment. Niemand klatscht oder äußert sich in sonst einer Art. Schaut jemand hin?

Als Schmelzer später erwähnt, dass Blatter im Stadion nicht ausgepfiffen worden sei, schleicht die Ahnung herauf, dass auch das Olympiastadion nur eine Attrappe sein könnte, gefüllt mit Schülerfreikarten. (Dass Blatter gar nicht explizit vorgestellt wurde, erwähnt Schmelzer nicht.) Ein erzieltes Tor erkennt man auch als Ungeübter, da braust es dann kurz durch die lokale Runde, wie später auch bei Torchancen und Aluminiumtreffern. Auffällig das offensichtlich unchoreographierte Fallen über ein gegnerisches Bein, welches genau deshalb so richtig gefährlich wirkt. Hat sie sich ernsthaft verletzt? Wer gefoult wird, „steht doch wieder auf“, bescheidet die eine die andere, da müsse man sich nicht sorgen. Am Ende wird es knapp, so richtig vibriert es aber nirgendwo. Ist es zu heiß dort draußen oder ist der Glaube an die Überlegenheit der Kickerinnen in Weiß zu groß? Abpfiff. Kein Jubel. Dankeschön und „Zahlen, bitte“. Nach einer Stunde schaut man in die Runde: niemand mehr da.

Es kann ja noch werden. Unbeantwortet bleibt die Frage, ob es überhaupt muss.

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