Das Problem beim Fußball ist seine Unberechenbarkeit, die Unmöglichkeit, seriös vorherzusehen, wie sich ein Spiel entwickeln wird. Was es auch leider zu einer ziemlich diffizilen Angelegenheit macht, eine Partie mit Geschick auszuwählen, mit deren Besuch man jemanden für den Fußball begeistern möchte. Jemanden, für die oder den Fußball bislang ein weißes Blatt ist, ein wenig geprägt von WM-Eindrücken und Schlagzeilen über Ultras oder Gewalt in Bahnhöfen und Zügen. Die oder der sich aber durchaus für den Fußball begeistern lassen wollen würde, keineswegs ginge es in diesem Fall um ein Missionieren, sondern um ein offenbar aufrichtiges Interesse daran, was denn die Faszination dessen ausmacht, anderen dabei zuzusehen, wie sie Sport treiben, anstatt dies selbst zu tun. Anstatt selbst einen Triathlon zu gewinnen oder eine Schachpartie, Aktionen, bei denen man schließlich tatsächlich in persona gewinnt und nicht nur passiver Beobachter ist. Gestern wäre eine solche, für diesen Zweck optimale Gelegenheit gewesen, doch weiß das eben niemand vorher. Chance vergeben, Chance vertan. Was auch in anderer Hinsicht charakteristisch für dieses Spiel war.
Eine exzellente Kulisse aus knapp 42.000 Zuschauern – mehr als der Zuschauerschnitt in der 1. Bundesliga beträgt –, die sich auch noch dadurch auszeichnete, dass eine besondere Rivalität zwischen beiden Parteien gepflegt wird und bedingt durch die räumliche Nähe ein nicht geringes Kontingent an Anhängern des auswärtigen Clubs anwesend war. Diese Rivalität mag man als Außenstehende vielleicht als eher weniger attraktiv empfinden; sie trug aber sicher nicht unwesentlich zum Reiz der anfänglichen Atmosphäre bei. Und doch hätte es nicht eines Jota dieser Rivalität gebraucht, um diese Partie als Einsplusmitsternchen geeignet dafür zu beurteilen, jeden Fußball-Neuling davon zu überzeugen, dass dieses kulturelle Phänomen, zu Tausenden auf seinen Schalensitzen zu hocken und Lieder zu singen, während erwachsene Männer sich um einen Ball streiten, eine Qualität besitzt und Faszination vermittelt, welche sich eben nicht darauf begrenzen, einfach Anhänger einer der beiden Seiten zu sein, geschweige denn sich an der feinen Spielkunst der immerhin einigermaßen besten Fußballspieler des Planeten zu erfreuen. Das kann man auch im Fernsehen und das kann man mittlerweile sogar selbst auf einer Spielkonsole, ohne es tatsächlich zu beherrschen. Doch die Spielkunst an sich ist eben nicht das, was diese Magie ausmacht.
Es ist dieses immer wieder 90 Minuten plus x dauernde Theaterstück, welches an beinahe allen bewohnten Orten des Planeten regelmäßig wieder aufs Neue inszeniert wird, während sein schließlicher Verlauf eben völlig unvorhersehbar ist. Ohne dass irgendjemand tatsächlich aktiv den Plot geschrieben hätte, entwickelt jedes Duell seine eigene Geschichte, und ohne jetzt langweilen zu wollen, weiß jeder Fußballfan, ist dieser in den meisten Fällen genau das: langweilig. Fußball ist langweilig, das hatten wir hier schon öfter auf der Seite, keine neue Erkenntnis, eindrucksvoll aber noch mal bewiesen durch die Freitags- und Samstagsspiele der 1. Bundesliga an diesem Wochenende.
Und bei den diesmal beteiligten Mannschaften war trotz der vielen Gegentore der einen Seite zuletzt nicht unbedingt davon auszugehen, dass man schließlich ein Feuerwerk außerordentlichster Kategorie erleben würde. (Auf dem Rasen wohlgemerkt, Pyro hat genauso wenig mit dem Spiel oder auch nur interessanter Atmosphäre zu tun wie die von Einfältigen gezündeten Böller.) Was sich dann innert dieser 90 Minuten entwickelte, war aber ein Schauspiel Shakespeare’schen Ausmaßes. Vielleicht sogar noch darüber hinaus, wird dort doch vielleicht auch viel gemordet, man zählt aber nicht gleich 46 (!) Abschlüsse in 90 Minuten. Eine Zahl, die mehr als anschaulich einen Eindruck von der Wahnwitzigkeit des Verlaufs dieser Partie vermitteln sollte. Liegt dieser Wert sonst irgendwo bei 5 bis 15 pro Partie, erreichte er hier das Dreifache dessen. Und genauso fühlte es sich auch an: als würde man gleich drei Partien innerhalb von 90 Minuten erleben. Diese Intensität mögen Taktik-Feinschmecker auch als vogelwild oder als eben gerade nicht von Fußballkunst, sondern von der Abwesenheit eines der wichtigsten Elemente im Spiel geprägt interpretieren: jener, sein Tor zu verteidigen.
Doch wenn in den ersten 12 Minuten schon mehr vor beiden Toren passiert als sonst in einem gesamten Fußballspiel und die Partie danach keineswegs – wie es allzu oft der Fall ist – erlahmt, dann war man eben Zeuge eines Spiels, das es in dieser Intensität nur alle paar Wochen mal gibt. Ja, richtig gelesen: alle paar Wochen. Man sollte sie nicht zu sehr überhöhen, schließlich kann eine Partie auch ebenso ein fesselnder Hitchcock-Thriller sein, ohne dass überhaupt je aufs Tor geschossen wird. Doch ist Letzteres der Fall, ist meist großes Gähnen angesagt und man weiß dann, dass man zwar gerne Eintritt zahlte, gerne an diesem Roulette, den ein Besuch eines Fußballspiels immer bedeutet, teilnahm. Leider aber eine der schlechteren der unendlich denkbaren Möglichkeiten des Verlaufs eines Fußballspiels erwischt hat.
Gestern war es eines jener Spiele, wie oben gesagt, die ein Einsplusmitsternchen verdienten, selbst wenn man die etwas eingefärbte Brille des Verfassers abnimmt. Denn wenn ein Spiel derart mit Höhepunkten vollgepfropft ist, dass die Zuschauer, obwohl nur alkoholfreies Bier ausgeschenkt wird, völlig besoffen nach 90 Minuten auf der einen Seite erschöpft in ihre Sitze sinken und auf der anderen Seite ausgiebig rheinisches Sangesgut zum Besten geben, dann ist das ein doch so seltenes Ereignis, dass man es wirklich herzlich bedauern muss, nicht gerade zu dieser Partie Fußball-Neulinge mitgenommen zu haben.
Immerhin, jede und jeder Anwesende wird diese Feierstunde des Fußballs für ein paar Stündchen mit in den Alltag genommen haben, mit ins eigene Leben, weil man als rasendes Publikum nicht nur stummer Zeuge eines Stückes dieser methalostonen Ausmaße war, sondern eben auch Teil dessen, wenn auch nicht auf dem Platz. Wären die Vorhersagen darüber nicht so unmöglich, wann sich ein solch brillantes Fußballspiel ereignet, hätte der Fußball sicher noch mehr Freunde, die sich bei ihrem ersten Spiel gleich von solch einem infizieren lassen könnten. Vom nächsten 0:0 im Nebel, mit 2:3 Ecken und ebenso vielen Torschüssen, bei uninspiriertem Dauergesang, lässt sich wohl kaum jemand mitreißen.
Zum Glück aber gibt es diese Sternstunden und wenn sie auch selten sein mögen: so selten wie ein Lottogewinn sind sie nicht. Und so bleibt nach Abpfiff – neben dem Abklemmen des Herzschrittmachers, den man hier eigentlich gebraucht hätte – vor allem eins: dass die möglichen Geschichten, die Spielverläufe erzählen können, weiterhin unendlich bleiben und immer wieder derartige Glanzstücke wie in dieser Partie hervorbringen. Man muss nur das Glück haben, dabei gewesen zu sein, bei so einem Spiel wie #f95msv, das allen vorherigen Partien in dieser Saison zeigte, wie Fußball auch immer wieder sein kann: atemberaubend.
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