Ich traf sie während des Finales der Frauen-EM 2013. Sie hatte sich in diese kleine afrikanische Bar bei mir um die Ecke geschlichen. Oder gestohlen. Man fiel dort als Weißer nicht auf, denn die Bar wurde angesichts ihrer zentralen Lage in der Stadt immer wieder von irgendwelchen Passanten frequentiert, die plötzlich durstig wurden, sich vielleicht auch nur Erleichterung verschaffen wollten. Warum ich jenes Finale einer EUROPAmeisterschaft ausgerechnet in einer afrikanischen Bar verfolgte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich, weil es sonst ohnehin fast niemand zeigte, nachdem der Hype um die WM 2011 in jenem Moment verglommen war, als die Deutschinnen, wie man so schön sagt, ausgeschieden waren. Schon zur WM 2011 war das tatsächliche Interesse ja eher mau gewesen, öffentliches, also an öffentlichen Orten wahrnehmbares, war ohnehin nicht vorhanden gewesen. Dass bei ARD oder ZDF stets Millionen mitsehen, liegt wohl eher daran, dass Pflegeberufe chronisch unterbesetzt sind.
Sie aber wollte gar nicht zur Toilette, sondern wirklich das Spiel schauen. Alleine? Wunderte ich mich. Du doch auch. Ja, wer guckt denn sonst schon Frauenfußball? Die eigentliche Stammkundschaft dieser Bar jedenfalls nicht, wo tagein, tagaus der Fernseher dröhnte, mit internationalem Programm, Premier League, Billard-WM, CNN-Nachrichten über den letzten Tornado in Kentucky, die Stammbelegschaft schaute gar nicht hin, ließ sich berieseln und frönte ansonsten dem dumpfen Zeittotschlagen, was schließlich für alle hier (auf diesem Planeten) immer noch die größte Herausforderung ist.
Warum sie denn Frauenfußball schaue?! „Weil mich das interessiert?“ Aha, und warum? „Weil ich selber gespielt habe.“ Achso, ja, gut, trifft man ja auch nicht so oft. Abgesehen von Frau Wu, mit der ich mal zufällig im Bus vom MSV-Spiel zurückfuhr, die mich fragte, warum ich zum MSV ginge. Und warum nicht zu ihnen komme, den Frauen des MSV. Ehrlich gesagt war ich mal da, gegen Essen glaube ich, aber es war … nicht so wunderschön anzusehen. Wenn Spielerinnen Mühe haben, einen Schuss wirklich platziert, vor allem in Bezug auf dessen Höhe, zu setzen, erhält es so eine Art Beliebigkeit. Jene Beliebigkeit, die ich von meinen eigenen meist fruchtlosen Bemühungen kenne. Und wenn eher der Zufall entscheidet, ok, das ist im Fußball ja oft so, aber eben als entscheidendes Element ein Spiel prägt, dann braucht man es auch nicht unbedingt öfter live anzusehen. Aber die Turnierspiele der DFB-Eleven schaue ich schon, so wie hier.
Ich wich damals in eine Notlüge aus, dass die Termine ja immer so ungünstig lägen und … war natürlich sofort enttarnt, denn die Termine in der 2. Bundesliga der Männer liegen genauso beschissen. Samstags 13.00 Uhr, sonntags 13.30 Uhr, da kommt ja man noch mit den Fischstäbchen im Mund am Stadion an, weil man nicht mal fertig zu Mittag gegessen hat. Aber das schaffe ich dann, einzuplanen. Es fehlt (mir) bei den Frauen diese Atmosphäre, wie sie bei einem Profi-Männerspiel ist. Es ist mit knapp 1.000 Zuschauern einfach noch zu sehr Bezirksliga-Feeling, das natürlich auch ganz nett ist, aber eben nicht dasselbe wie ein Profispiel der Männer.
Sie jedenfalls schaute wirklich dem Spiel zu, weil sie es interessant fand. In der Halbzeitpause ging sie hinüber in den Kant-Park, zu ihren Alkoholiker-Freunden, die dort schon vor dem inzwischen wieder aufgehobenen Alkoholverbot in der Innenstadt ihre Bleibe gefunden hatten. Es ist dieses nicht rauschhafte, sondern dauerbedröselte Saufen, das so wenig nachvollziehbar erscheint. Dauerstramm zu sein, was hat man davon? Eine rauschhafter Abend, mit viel Gesang und Wein und Weib, das ist nachvollziehbar und irgendwie ja auch kulturell akzeptiert. Ständig von morgens bis abends dun zu sein, erscheint hingegen eher wenig erstrebenswert. Und so wirkte auch sie. Dauer-dun und ich fragte mich, wie man denn so werden könne.
In Dingens hätte sie gespielt, und zwar im Tor und das auch dauerhaft und erfolgreich, sagte sie. Doch dann wäre es immer schlimmer geworden, mit dem Heroin und so. Und ich fragte, ganz naiv, warum man denn damit anfängt, wenn man doch weiß, dass das am Ende nur scheiße sein kann. Weil ihre Eltern auch schon drupp waren, wie man in diesem speziellen Fall hier im Westen statt „drauf“ sagt. Die hätten sich um nichts gekümmert, außer um den nächsten Schuss und so war es für sie irgendwie „normal“, das auch mal zu probieren. Dann war sie irgendwann drupp und dann war es auch mit der Karriere als Torhüterin schnell vorbei. Wobei sie noch dagegen ankämpfte, wenigstens das regelmäßige Training habe ihrem Alltag Struktur gegeben. Doch als sie von der Nr. 1 zur Nr. 2 degradiert wurde und quasi gar nicht mehr spielte, brach auch das zusammen. Dann war Schluss mit dem Torstehen. Und danach ging es nur noch in der Drogenkarriere weiter, nicht aber in ihrer Fußball-.
Immerhin schaute sie dann noch das Finale der EM 2013, und sie stand neben mir und ich dachte nur, was für ein Glück ich habe, dass ich in ein gesundes Elternhaus geboren wurde. Tja. Die Deutschinnen gewannen. Sie ging, zurück in den Park zu ihren „Freunden“, ich in mein Zuhause, mit Bett, Dach und Dusche.
Warum man trotzdem damit anfängt, wo man doch weiß, wie es endet? Das ist so ähnlich, als würdest du zu deiner heimlichen Geliebten gehen. Du weißt, das ist nicht richtig, du weißt, du wirst irgendwann auffliegen, aber es ist dir egal irgendwann, ja, nicht nur das, du gibst dich der Sucht hin mit diesem höhnischen Gefühl, ihr könnt mich alle mal, ich geh jetzt zu meiner Geliebten und da könnt ihr tausend Mal sagen, sie tut dir nicht gut. Die führt dich in den Ruin. Die zieht dich ab, das ist ne linke Tante. Zehntausend Mal. Man geht trotzdem, weil es deine Geliebte ist.