Ich glaube, das ist eher selten für Stadiongänger, deshalb sag ich es noch mal dazu. Ich fühle mich ziemlich unwohl, zu infantil und irgendwie auch zu uncool damit im nüchternen Zustand als erwachsener Mann in einem Stadion laut zu schreien oder auch nur zu singen. Die Buchstaben des Vereinsnamens zum Beispiel, die Vereinshymne kommen mir nur ganz schwer und allzu häufig gar nicht über die Lippen. Typischer, verklemmter Mitteleuropäer mit Stock und so weiter. Rumgröhlen geht gar nicht. Ein schlechtes Gewissen wegen mangelnder Anfeuerung verspüre ich dabei allerdings nicht, empfinde ich alleine meine Anwesenheit gegen Geld schon als mehr als ausreichende Motivationsspritze für die Spieler. Doch gesungen wird von mir für gewöhnlich nicht.
Womöglich habe ich mich selbst mit diesem Verhalten jahrzehntelang einer viel größeren Intensität des Stadionerlebnisses beraubt. Denn letztens lief mir die folgende Information zu.
When people sing together, a hormone called oxytocin makes people feel trust and intimacy.
Wenn Menschen zusammen singen, sorgt das Hormon Oxytocin dafür, dass sie Vertrauen und Intimität empfinden.
O, Halleluja!
Oxytocin ist tatsächlich ziemlich wichtig beim Wohlfühlen, wird unter Anderem auch beim Kuscheln mit anderen (Menschen?) ausgeschüttet und so weiter. Trust and intimacy werden verstärkt, also Vertrauen und Intimität. Vertrauen und Intimität sind nicht das Selbe wie Euphorie und Freude. Aber natürlich tut es gut, wenn man Vertrauen und Intimität spürt. Das ist ohnehin eine immer noch betörende Komponente eines Stadionbesuchs: die nicht nur eingebildete Intimität, allein durchs Zusammenstehen mit anderen Menschen. Das soll aber Thema eines anderen Beitrags sein.
Beim letzten Stadionbesuch hab ich dann alles mitgesungen, was geht: Alle drei verschiedenen Vereinshymnen, alle Variationen des Vereinsnamens und auch alle weiteren Gesänge wie „Steht auf, wenn Ihr xyz seid“ oder „Schießt ein Tor für uns“, einfach alles, was man so singt. Und da das Spiel lange auf des Messers Schneide stand, wurde viel gesungen. Es war ein Experiment und ich wollte eben alles mitsingen, in Oxytocin baden und sehen, ob ich mich anders fühle als an den anderen Tagen.
Und was soll ich sagen: Ich fühlte mich wirklich dem Ereignis näher als zu anderen Gelegenheiten als meist stummer Beobachter. Ich spürte ein intensiveres Gefühl, wirklich teilzuhaben als sonst und nicht zuletzt: Ich vertraute mehr darauf, dass in der wie erwähnt lange unentschiedenen Partie dem favorisierten Team der Siegtreffer noch gelingen würde.
Was schließlich auch geschah, ein knappes, ein glückliches 1:0 wurde es am Ende, was natürlich die bislang einmalige empirische Beobachtung ein wenig verfälscht, schließlich fühlt man sich im Anschluss an einen Sieg immer besser, oxytocinierter als ohne einen solchen. Und ob der Rückblick in Bezug auf meine Vertrauensseligkeit bevor das Tor fiel nicht trügt, kann ich auch nur schwer beurteilen.
Es gilt also weitere Proben aufs Exempel zu nehmen, und auch bei Remis und Niederlagen künftig alles mitzusingen und zu -schmettern und zu sehen, wie das dann wirkt in punkto trust and intimacy.
Das alles führt uns aber auch zur Frage, ob es nicht vielleicht doch nicht ganz so belächelnswert ist, wie man (auch hier) eigentlich immer annimmt, ob die Nationalspieler die Nationalhymne mitsingen sollten oder nicht. Mag sein, dass Oxytocin nur bei positiv besetzten Musikstücken ausgeschüttet wird, da müsste man jetzt mehr ins Detail gehen. Niemand wird aber daran zweifeln, dass es nur förderlich sein kann, wenn die Spieler Vertrauen spüren. Wessen Vertrauen, ob das der Zuschauer, Mitspieler oder das so häufig eingeforderte des Trainers, spielt dabei gar keine Rolle. Jaja, Spaniens Hymne hat gar keinen Text und trotzdem sind sie momentan Erster-Alles. Doch man sollte nichts unversucht lassen, um genau diesen status quo zu ändern. Also geht’s raus und singt’s gefälligst ab sofort, ihr Migrantenkinderlein. Könnt ja nen anderen Text nehmen.
Wie’s bei mir demnächst wirkt, auch bei Remis und Niederlagen, ich werde berichten.
Es wird mir also eine besondere Freude sein, am kommenden Mittwoch zu erleben, wie sich eine als Lesung angekündigte Veranstaltung vor Ort als Konzert entpuppt.
Frage ist ja, ob nur Singen Vertrauen und Intimität herstellen kann oder ob das auch anders passiert
Jein. Da wäre dann die Frage, ob man Vertrauen und Intimität endlos kumulieren kann und somit aus mehreren Quellen gespeistes Vertrauen einen größeren Wert erreicht als bei jenen, welche aufs Singen verzichten.
[…] Trainer Baade analysiert die chemischen Prozesse beim Singen im Stadion. […]
Davon gehe ich mal nicht aus, das würde ja in einer Kuschelorgie enden. Und würde das vielleicht auch den nötigen Adrenalinkick verhindern, um so ein Wetttkampfspiel angemessen bestreiten zu können? Ernster Hintergrund für mich ist, dass die Hymne soviel zwiespältiges in sich trägt, dass ich es in jedem Fall die schlechtere Wahl wäre, sie zur Pflicht /zum Zwang zu machen.
Einer der Hauptgründe für Fahrten zu Fußballspielen ist für mich das gemeinsame Singen. Im Zug, auf dem Weg, im Stadion. Ich liebe es – je nach Lied natürlich auch mal mehr und mal weniger.
Mir geht es dabei eher weniger um den Kuschelfaktor als um Anfeuerung des eigenen Teams und das Ablassen von aufgestauter Anspannung.
Deshalb möchte ich jedem empfehlen das Experiment des Trainers selbst zu versuchen. Und dann aber wirklich auch mal singen. Nicht stumpf gröhlen. Nein, Fußballgesänge sollt ihr singen.
Singen ist eigentlich immer schön, wenn man sich mal traut. Es wird viel zu wenig gesungen, vor allem das „schöne“ Singen, wo man sich ein wenig Mühe gibt, anstatt nach zwei Tönen direkt absichtlich falsch zu singen, weil man sich selbst so peinlich findet.
Ja, das Gemeinschaftsgefühl verstärkt sich, wenn man mitmacht. Das ist nicht nur beim Singen so, sondern auch beim Schunkeln, sich anfassen. Aber da ist die Hemmschwelle für mich noch höher.
Beim Fußball ist Mitmachen ja ausdrücklich erwünscht. Bei den meisten Rockkonzerten auch. Es gibt aber Künstler… Joe Jackson hat eine gewisse Neigung zur Publikumsbeschimpfung entwickelt. Mitsingen und Mitklatschen findet er teilweise doof. Die richtigen Fans wissen natürlich auch, daß der Künstler das nicht schätzt und stehen mit verschränkten Armen da, um auf Nummer sicher zu gehen. Beim letzten Konzert war die Stimmung dann auch dementsprechend scheiße. Dazu war es überwiegend mit Bestuhlung. Als sich einige Menschen dann doch trauten, etwas mitzumachen und in Austausch mit dem Künstler gingen (der das mittlerweile auch auch absichtlich betrieb)wurde es wesentlich besser.
Was ich aber absolut nicht abhaben kann, das ist dieses Raserei-Gehabe und das Pogen, das von den Toten Hosen teilweise betrieben wird. Da wußte ich schon als 16jähriger, daß ich da nicht mitmachen will.
Wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen stehen lieber.
Heute kam mir bei Twitter ein taz-Artikel unter, und beim Lesen fiel mir ein, daß ich das Wort Oxytocin hier gelesen hatte. Dieses Hormon kann anscheinend auch noch mehr als das Kuscheln anregen: Es hilft bei Kontaktängsten, Autismus und Depressionen. Und anscheinend auch bei Erektionsstörungen. Interessant für Fußballfans ist aber ein möglicher Nebeneffekt. Es schweißt eine Gruppe zusammen und erhöht das Bedürfnis nach Abgrenzung zu anderen Gruppen, bis hin zu beginnender Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit. Naja, wenn die Forschungsergebnisse (in beide Richtungen) stimmen. Kann man hier nachlesen:
http://www.taz.de/Kuschelhormon-mit-Wundereffekten/!113986/
Ja, Danke für den Link.
Das Zusammenschweißen gegen Außenstehende beim Singen bzw. durch die Wirkung von Oxytocin könnte dann möglicherweise einer der Gründe sein, warum ich das Singen als Experiment irgendwann wieder einstellen werde.
[…] das das Resultat meines kleinen Experimentes zusammenfasst. Eingeleitet wurde dieses mit dem Text „Sanfte Bande Sangesstunde Stadion“, in dem ich ankündigte, für die kommende Saison alles mitzusingen, was das Reservoir an […]